Freitag, 18. September 2009

Das Gelübde

Es waren einmal zwei Zen-Mönche, die durch den Wald zu ihrem Kloster zurückkehrten. Als sie an den Fluß kamen, sahen sie eine Frau am Ufer knien und weinen. Sie war jung und schön.
»Was ist mit dir?« fragte der ältere Mönch.
»Meine Mutter liegt im Sterben. Sie ist allein zu Haus, auf der anderen Seite des Flusses, und ich kann nicht zu ihr. Ich habe es versucht«, antwortete sie, »aber die Strömung hat mich fortgerissen, und ohne Hilfe komme ich nicht auf die andere Seite. Ich dachte, ich würde sie wohl nicht mehr lebend wiedersehen. Aber jetzt... Jetzt, wo ihr gekommen seid, könnte mir doch einer von euch helfen, den Fluß zu überqueren...«
»Ich wünschte, wir könnten das tun«, klagte der Jüngere. »Aber die einzige Möglichkeit, dir zu helfen, wäre, dich über den Fluß zu tragen. Unser Keuschheitsgelübde jedoch verbietet uns jeden Kontakt zum anderen Geschlecht. Es ist uns verboten. Es tut mir leid.«
»Mir tut es auch leid«, sagte die Frau und brach erneut in Tränen aus.
Der ältere Mönch kniete nieder, beugte den Kopf und sagte: »Steig auf!«
Die Frau konnte es kaum glauben, sie raffte schnell ihr Bündel zusammen und stieg dem Mönch auf den Rücken. Unter größten Schwierigkeiten durchquerte der alte Mönch, gefolgt vom Jüngeren, den Fluß.
Als sie am anderen Ufer angelangt waren, stieg die Frau ab und wollte dem alten Mönch
die Hände küssen.
»Ist schon gut«, sagte der Alte und zog seine Hände zurück, »setz deinen Weg fort.«
Die Frau verneigte sich dankbar und ergeben, sammelte ihr Bündel auf und lief los in Richtung Dorf.
Schweigend nahmen die Mönche ihren Marsch zum Kloster wieder auf. Zehn Stunden Weg lagen noch vor ihnen... Kurz vor ihrer Ankunft sagte der Junge zum Alten: »Meister, Ihr kennt unser Gelübde besser als ich. Dennoch habt Ihr diese Frau auf Euren Schultern über den Fluß
getragen.«
»Ja, ich habe sie über den Fluß getragen. Aber was ist mit dir, der du sie noch immer auf deinen Schultern trägst?«

Quelle: Jorge Bucay, Komm, ich erzähl dir eine Geschichte, Zürich 2005, S. 112 f.

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